Literatur
mmm: 10 – Blog Martina Mächler
Die Decke aus warmen Farbtönen ist vielschichtig und wartet auf Windstösse, die schon von hohen Tannen und Buchen abgefangen wurden.
Die Nächte werden länger. M wacht auch nicht mehr einfach so ohne Weckton, den sie nun übrigens wirklich ändern will, vor sieben Uhr morgens auf. Die weniger-werdenden Sonnenstrahlen machen sich spät morgens und schüchtern auf dem durchlässigen Vorhang bemerkbar und scheinen dann mittags in aller Kraft auf den weissglühenden Balkontisch. Es gelingt M heute schon vorher aufzustehen, ihre Füsse auf den Boden zu stellen, die sie noch immer an die Turnhallen ihrer Kindheit erinnert, mitsamt Ballgeräuschen, die hin und her spicken und einem Durcheinander an Stimmen, die darin verschluckt werden. Es gelingt M die stabilen Schuhe aus dem Schrank zu holen und die Schuhbändel ungeduldig zu entwirren und darin letzten Endes am Waldrand anzukommen, wo sie M dann unbeschwert über Wurzeln und Laub laufen lassen. Die Decke aus warmen Farbtönen ist vielschichtig und wartet auf Windstösse, die schon von hohen Tannen und Buchen abgefangen wurden.
M‘s Ziel ist es Pilze zu finden, die sie am Abend gemeinsam mit ihren Freund*innen essen kann. Sie dachte an ein Pilz-Wellington Rezept, aber könnte sich auch vorstellen einen Pilz-Aufstrich zu machen, falls heute niemand Zeit findet - das hält sich länger. M‘s Blick ist suchend nach unten gerichtet und verlängert den langen, leicht gebogenen Ast, mit dem sie sachte den Boden abstochert. Es finden sich nur Pilze, die M nicht kennt und kleiner als zwei Zentimeter sind. M lässt sie an Ort und Stelle. Ein kleines noch grünes Blatt erinnert M, dass sie noch ihre Krankenkasse wechseln will. Sie möchte diesen Gedanken jedoch nicht jetzt weiterverfolgen, doch gibt es keine Pilzfunde, die sie davon abringen könnte. Der Ast wird zum Wanderstock und hält dem Druck stand. M’s Blick schaut gehend ins Leere, während der Gedanke aktiv hin und her spickt und die Schädeldecke gleichmässig penetriert. M ärgert sich zwar, muss aber auch darüber lachen, da sie an einen Energievampir aus einer Fernsehserie erinnert ist, der jeweils alles Erdenkliche bis ins letzte Detail ausführt, ungefragt alle Informationen zu einem gewissen Thema teilt und damit die Zeit und vor allem Energie der Zuhörenden aussaugt. M lacht: «Ich bin mein eigener Vampir». Das lockert die Situation um einiges.
M sieht die Wurzeln eines Baumes, der selbst relativ weit weg steht, nicht. Sie ragen gut sichtbar aus dem Laub hervor, trotzdem stolpert M darüber und fällt mit einer raschen Klatschbewegung ins Blättermeer. M dreht ihren Kopf nach vorne, so dass sie direkt mehreren schwarzen Käfern mit orangenen Fühlern und einem regelmässigen Muster auf dem Rücken zuschaut, wie diese den in sich zusammengefallenen Aas einer kleinen Maus bearbeiten. Dies geschieht so hektisch, als ob dies vor zwei Monaten hätte gemacht werden müssen. Auch lassen sie sich von der Erschütterung, die von M‘s Fall ausging, nicht beirren. Der Körper der Maus wird kurz darauf in einen ausgehölten Erdgang gezogen und ist nun verschwunden, begräbt gleichzeitig auch M‘s Hoffnung an einer Teezeremonie mit den verspäteten Käfern teilnehmen zu können. M fühlt sich ungelenk und plötzlich viel zu gross. Sie ist sich sicher dies prüfen zu können, wäre M im Keller ihrer Eltern. Gleich bei der Wand mit den Geburtstags-Strichen, die ihr jährliches Wachstum mit einem Kugelschreiber-Strich dokumentiert. Und obwohl seit M fünfzehn Jahre alt wurde, kein neuer Strich mehr dazu kam, war sie sicher jetzt mit dem Kopf an der Decke des Kellers anzustossen, vom Herzschlag, der lauter scheint als sonst, bestätigt. Den gebogenen Ast möchte M lieber nicht zur Hand nehmen, weder um zu prüfen, wie es um ihr Grössenverhältnis steht, noch um schnellstmöglich aufzustehen und verbleibt mit der Vorstellung über sich selbst hinaus gewachsen zu sein.
M dreht sich auf den Rücken, liegt auf dem noch leeren Rucksack und den Kopf sanft auf einem Laub-Kissen platziert. M blickt in die Baumkronen. M‘s Inneres, materiell wie auch gedanklich, schaukelt hin und her, als ob sie ein Wellenbad beherbergt. M denkt an nasse Ausflüge nach Pfäffikon. M denkt über die Käfer nach, die wohl im Frühling aus der toten Maus schlüpfen werden. M denkt darüber nach, was sie jemanden mitgeben würde, als brauchbare Bruchstücke für eine neue Welt und kommt auf Umarmungen und vielleicht ein paar wenige Worte, und denkt erst später an eine kalorienreiche Kost. M entscheidet, dass es heute Spaghetti mit Pesto geben wird und läuft in den stabilen Schuhen nach Hause.
Dieser Beitrag war inspiriert von Margaritta Schiesser’s «WUNDERWALD – pinker Traum zum Leben grau»
Autor
SchwyzKulturPlus
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- Literatur
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