Literatur
mmm: 03 – Blog Martina Mächler
Ich trank mich vielleicht selbst, wohl auch an anderen Orten, welche weniger dynamisch benannt sind.
Es könnte gut sein, dass der Eiswürfel in meinem Getränk viel mehr in sich trug, als ich damals annahm. Nicht nur, weil die Bar, in welcher ich trank, nach einer grossen anmutenden Wassermasse benannt wurde und sich nicht unweit von dem gestauten Wasser befindet, in welches ein Tropfen von mir fiel. Auch wenn der Tropfen nicht durch die Rohre gepresst, rasant in die Tiefe stiess, um einen Teil der Energie zu erzeugen, die für das Einfrieren von Wasser aufzubringen ist, bin ich mir doch sicher, dass ich den Eiswürfel zumindest flüstern hörte: «Ihre Verwirrung lag in der Verwobenheit des Meeres, der Katze, der Kuh und ihrer selbst.»* Als ob das schmelzende Eis, das sich langsam unter die Mischung aus Wodka, Rum, Gin, Tequila, Cola und einem dünngeschnittenem Zitronenschnitz gesellte, mir vor Jahren schon mitteilen wollte, was ich erst später lesen würde. Ich trank mich vielleicht selbst, wohl auch an anderen Orten, welche weniger dynamisch benannt sind. Ich schätzte, dass die etwas undeutlich gesprochene Aussage eine Frage mittransportierte, der Eiswürfel aber keine klare Antwort forderte. Er forderte aber einen Raum, den ich bereitstellen wollte und dessen Inhalt ich durchs Schlucken bei mir behielt und nur langsam verdauen würde.
Ich nahm gerade den letzten Rest mit dem gestreiften Strohhalm auf, während plötzlich das Licht ausging, das über den einzelnen Tischen in Form von Lampenschirmen installiert ist. Alles was vorhin noch als klare Konturen und Kanten auszumachen war, ist nur noch vage zu erahnen. Ein dramatisch gerichteter Scheinwerfer übernimmt. Er beleuchtet ein Kind, das einen Namen trägt. Das Kind wirft sich in grosser Eile und mit Schwung einen roten, glänzenden Umhang um und bewegt sich noch viel schneller zum Tisch eines Mannes, der den Wechsel der Szene noch nicht mitbekommen hat. Auch der Scheinwerfer ist beinahe zu langsam, um einen fliessenden Übergang zu gewährleisten. Mit einem gekonnten Kick, der in seiner Ausführung geübt erschein, schlägt der Fuss des Kindes ihm aus der Hand, was er gerade eben noch anzünden wollte. Und auch jetzt hat der Mann noch nicht erfasst, was passiert ist, obwohl ihn das Kind mit sehr grossen erwartungsvollen Augen anschaut. Sein Körper bleibt unverändert, seine Augen hingegen suchen nach Anhaltspunkten und tasten den Raum hektisch ab. Hin und her, wieder und wieder. Es finden sich schliesslich vier Augen, die zwischen Kind und Mann hin und her schwenken. Hin und her, wieder und wieder, beinahe synchron, bis sie sich in je zwei Paare trennen, welche sich nun hauptsächlich gegenseitig anstarren. Sie hoffen, dass das jeweilig andere Augenpaar sich bereiterklärt alles aufzulösen und warten auf den Moment, in dem es geschieht. Es ist zweifelsfrei ihr Stichwort. Ein Augenpaar ergreift also die Initiative und aktiviert ihren Arm, der dem Kind den Umhang wegnimmt, obwohl das Kind doch nur wollte, dass jene Hand, die nun den Umhang hält, mit den anderen drei Händen des Körpers der vier Augen zusammentreffen und klatschen. Das funktioniert sonst meistens im intimen Rahmen. Aber alles bleibt still und das Kind versteht nicht warum, teilt sich auf, um den möglichen Ursachen nachzugehen. Das Kind wird beim Namen gerufen, sammelt sich deshalb und bewegt sich langsam vom Tisch weg.
Gespräche und leise Eurodance Musik, welche über die in der Decke versenkten Lautsprecher gespielt wird, verweben sich zu einem Rauschen, das den Raum mit der gewohnten Atmosphäre füllt. «Gehen wir?» fragen mich meine zwei Freundinnen und ich wickle mich noch im selben Atemzug in meinen Mantel.
*«Her confusion lay in the interconnectedness of the sea, the cat, the cow and herself. Her confusion also came from not knowing if she had chanted “everything is one” when she was still a girl, staring at the sea, or later, remembering. » Clarice Lispector, Near to the Wild Heart, 1942 (Penguin Classics, 2014, Englische Übersetzung von Alison Entrekin)
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SchwyzKulturPlus
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